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Verblasst

Roy Reynolds griff routiniert zur Flasche, drehte den Deckel ab und goss den Whisky in das Glas mit den Eiswürfeln. Er stellte ihn zurück auf den Tresen der Wohnzimmerbar, nahm das Getränk und ging hinüber zur Glasfront, öffnete die Schiebetür und betrat den Granitboden der Terrasse. Er schaute hinüber zum Schwimmteich und ließ seinen Blick weiter über den parkähnlichen Garten schweifen. Er sog die frische, feuchte Abendluft des Frühlings intensiv ein, um anschließend den achtzehn Jahre gereiften Whisky hinunterzuschütten.

Roy starrte auf das Glas in seiner Hand, in dem die Eiswürfel am Boden klimperten. »Na, meine kleinen Freunde, wollt ihr wieder schwimmen«, murmelte er und ging zurück ins Haus. Mit der noch offenen Flasche kam er zurück und setzte sich mit ihr an den Gartentisch. Nachdem der vierte Whisky in seinem Innersten verschwunden war, wurde ihm klar, wie dieses Ritual in den letzten Jahren zur Gewohnheit geworden war und es wurden immer mehr Gläser die er leerte. Dieses Verhalten betraf nicht nur die Abende, auch morgens, wenn keine Termine für den Tag eingetragen waren, öffnete er bereits schon vor dem Frühstück eine neue Flasche.

Roy musste sich eingestehen, dass seine Zeit abgelaufen war. Das zeigten ihm unter anderem die immer weniger werdenden Postboxen, in denen sich die Anfragen oder besser gesagt die Bettelbriefe befanden. Die er, beziehungsweise seine Produktionsfirma, in den letzten zwei Jahrzehnten bekam. Nicht nur die Anzahl der Briefe ging zurück, auch die Emails schrumpften auf eine überschaubare Menge und für seine Fan-Post benötigte er niemanden mehr, der diese bearbeitete. Vorbei war die Zeit, dass es hieß: »Wer bei Roy in der Show auftritt, der hat es geschafft«. Und so war es auch. Alles was Rang und Namen hatte tauchte als Gast in Roys Late-Night-Show auf, die von montags bis freitags ausgestrahlt wurde.

Roy – der Late-Night-Dino, wie ihn die Medien und die Newcomer der Branche nannten. Es zeigte sich deutlich, dass die nächste Generation von Sprücheklopfern herangewachsen war und auf ihre Chance lauerte. Junge Typen, die zudem noch gut aussahen, beherrschten die Mattscheibe und das Internet. Nun waren es ihre, nicht mehr seine Sprüche und Witze, die die Menge begeisterten und Trends setzten.

Er, und ebenso seine zumeist provokanten Sprüche, gelten zwar als Kult, was für ihn allerdings nur Gewohnheit bedeutete. Und diese Gewohnheit war es auch, die seine letzten Fans vor die Fernseher trieb. Genauso wie er seine Show aus Gewohnheit moderierte und allmählich machte er sich Gedanken, wie lange er noch an diesem Format festhalten sollte. Sollte er warten, bis der Sender ihm sagt: »Roy, du warst gut, es war eine nette Zusammenarbeit. Ach übrigens, ich möchte dir jemanden vorstellen.« Und dieser jemand wird dann einer von diesen jungen hippen Typen sein, der gerade gestartet ist.

Doch der einstige Late-Night-King wollte nicht in Selbstmitleid und Depressionen vergehen und als ihm an diesem Spätabend bewusst wurde, dass er auf bestem Wege dahin sei, geriet er in Panik und wollte nicht, dass alles damit endet, dass das einzige, was noch von ihm in den Zeitungen berichtet wird, seine Alkoholexzesse sind … die er bis jetzt noch geheim halten konnte. Dann schon lieber gar keine Schlagzeilen als solche. So wie es bei vielen seiner Kollegen der Fall ist, die sich im Show-Geschäft bewegen.

Wenn es nur nach dem Geld ginge, so hätte Roy schon vor Jahren aufhören können, doch die Sucht nach dem Scheinwerferlicht, die Befriedigung des jubelnden Publikums trieben ihn an, auch wenn das alles immer weiter zurückging, ja, es kam ihm sogar vor wie Mitleidsbekundungen. Vorbei war die Zeit, als zusätzlich zur Show große Werbeverträge mit ihm abgeschlossen wurden und er die gigantischsten Medienevents moderierte.

Doch einfach aufhören wollte Roy nicht, zu groß war die Liebe zur Bühne. Er musste sich eingestehen, dass es an der Zeit war, eine Entscheidung zu treffen, wenn er nicht die Sucht des Rampenlichts mit der Alkoholsucht tauschen wollte. So wollte er auch nicht darauf warten, bis die Bosse des Senders ihm ein Gnadenbrot zuwerfen und ihn ab und zu auf die Weide stellen, wie ein ausgedientes Spitzenrennpferd. Denn das war er einst: Das beste Pferd im Stall der Unterhaltung. Wer auf ihn setzte gewann. Dann schon eher hinter der Bühne als Produzent. Er kannte das gesamte Spektrum eines wahren Unterhaltungskünstlers. Er sang, machte Stand-up-Comedy, spielte Sketsche, war an einigen Filmen als Schauspieler beteiligt, wusste was und wie man wem die richtigen Fragen stellte.

***

Im nächsten Meeting verkündete Roy, dass es aus seiner Sicht allmählich an der Zeit sei, sein Tätigkeitsfeld zu verändern. Er war der Meinung, dass sein Talkshowformat, ebenso wie er, abgenutzt war. Bei dieser Nachricht atmete der Chef des Senders erleichtert auf. Roy war ihm zuvorgekommen, da zum Ende des Jahres die Show sowieso abgesetzt werden sollte. Roy erzählte von seinen Plänen, selber Shows zu produzieren und er hätte da auch schon einige zeitgemäße Ideen, die er sogleich den Anwesenden vortrug.

Es war die richtige Entscheidung, es selbst in die Hand zu nehmen und nicht zu warten, bis andere für ihn entschieden. So konnte Roy sich allmählich daran gewöhnen, dass seine Zeit vor der Kamera zu Ende ging. Er konnte langsam mit dem Entzug beginnen. Die Showbranche hatte ihn nicht geschlagen. Und es kam wie es kommen musste: Sein Ruhm verblasste, doch er selber bekam durch seinen neuen Weg wieder Farbe.

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Zwiespalt der Seele

Wie ein Kometenschweif zog die Kugel den roten Lebenssaft hinter sich her, als sie aus dem Rücken des Mannes austrat. Das Blut spritzte gegen die beige Hauswand, die Kugel drang tief in das Mauerwerk ein. Vincent hatte seinen Auftrag wie immer mit der Akribie eines Chirurgen und der Kaltblütigkeit einer Maschine ausgeführt. Das Geschoss hatte das Herz genau getroffen. Mit der Ruhe und Gelassenheit eines Faultiers schraubte er den Schalldämpfer von dem Pistolenlauf und verstaute beides in der Manteltasche. Anschließend ging er zum Kofferraum des Autos und holte einen schwarzen Plastiksack, der mit einem Reißverschluss versehen war, heraus.

***

Die Scheinwerfer fraßen sich durch die Dunkelheit des Waldes. Vincent hatte nicht mehr weit zu fahren, dann würde er an dem ausgedienten, halb zerfallenen Krematorium, welches zu einem nicht mehr benutzten Waldfriedhof gehörte, ankommen. Bei seiner Recherche zur Leichenbeseitigung war er auf die Verbrennungseinrichtung gestoßen. So einfach war es noch nie für ihn gewesen, die Überreste seiner Arbeit zu beseitigen. Das Feuer im Ofen schüren, die Leiche und das todbringende Werkzeug hineinwerfen. Dann abwarten, bis sich so ziemlich alles zersetzt hat und abhauen.

Niemals benutzte er eine Waffe zwei Mal, ebenso verhielt es sich mit dem Auto, wenn er eines brauchte, da es auch Aufträge gab, bei denen er keins benötigte. So zum Beispiel in einer Wohnung, wenn die Leiche an Ort und Stelle verbleiben sollte. Doch der aktuelle Job verlangte, dass der Getötete zu verschwinden hatte. Warum, das interessierte Vincent nicht. Ihn interessierten lediglich die fünfundzwanzigtausend Euro mehr, die er für diese Zusatzleistung bekam.

Vincent arbeitete überall auf der Welt. Die einzige Bedingung war, dass der Einsatzort mindestens zweihundertfünfzig Kilometer von seinem Wohnort entfernt lag.

Für jeden Auftrag erstellte er einen Ablaufplan, der aus drei Punkten bestand: Vor der Ausführung, während der Ausführung, nach der Ausführung. Zu jedem dieser Punkte stellte er sich die Fragen: wo, wann und wie. Erst wenn er diese Fragen zu seiner Zufriedenheit beantwortet hatte, beziehungsweise ausreichend recherchiert hatte, schritt er zur Tat. Niemals ließ er sich von seinem Auftraggeber unter Druck setzen – Vincent war derjenige, der bestimmte, wo-wann-wie der Auftrag durchgeführt wird.

Falls er, wie bei seinem letzten Job, einen Wagen benötigte, besorgte er sich unter falschem Namen ein schrottreifes Auto bei einem x-beliebigen Straßenhändler. Nach Beendigung des Auftrags verkaufte er das Fahrzeug an einen ebensolchen Schrotthändler, der nicht viele Fragen stellte. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln fuhr Vincent dann davon, ein Taxi kommt für ihn nicht in Frage. Sobald sich dann eine Gelegenheit bot, so wie jetzt in der Toilettenkabine des Zuges, entfernte er seinen falschen Bart und nahm die Perücke ab, sodass seine kurzen blonden Haare wieder atmen konnten und sein junges Gesicht zum Vorschein kam. Er war zufrieden über den Ausgang des Jobs und konnte 125.000 Euro reicher aus der Bahn aussteigen.

***

Der alte Mann zog sich mühsam den Bademantel über den Schlafanzug. Seit geraumer Zeit hatte er nichts anderes mehr getragen. Der Krebs wird nicht mehr lange brauchen, bis er ihn ganz zerfressen hatte. Mit hängendem Kopf und nach vorne gefallenen Schultern schlurfte Jensen den Gang entlang, bis er am Aufenthaltsraum angekommen war. Eine junge Schwester trat gerade aus der Tür und hielt sie weit für ihn auf. Dabei wünschte sie ihm einen Guten Morgen und erzählte, dass er bereits erwartet wird. Jensen freute sich, hob den Kopf und späte durch den Raum. Als er den großen, blonden Mann hinten am Tisch sitzen sah, huschte ein Lächeln über sein Gesicht. Er richtete sich auf und schritt auf seinen Gast zu. Der Wartende erhob sich, streckte Jensen eine Hand entgegen und erkundigte sich nach dessen Befinden. Dieser erwiderte freundlich, dass es ihm so wie gestern ginge und sehr wahrscheinlich so wie morgen. Die Männer machten es sich auf den Stühlen bequem und Jensen griff nach dem Stapel Karten, der auf dem Tisch bereitlag. Er mischte sie ordentlich durch und anschließend legten die Männer ihre Patiencepartie.

Jensens Partner war ein gern gesehener Gast im Sanatorium. Er kam zwei- bis dreimal die Woche und verbrachte ein paar Stunden mit den Patienten, die keinen Besuch erhielten. Der blonde Mann richtete sich dabei immer nach den Wünschen der todkranken Patienten. Er las denen, die sich nicht mehr rühren konnten, vor, mit den anderen ging er spazieren oder spielte mit ihnen Karten, Mühle, Schach oder worauf sie sonst Lust hatten. In vielen Fällen ging es auch nur darum, den Patienten, die einfach nur reden wollten, zuzuhören.

***

Der große Mann mit der schwarzen Ledermaske geht zum Stativ, schaltet die Videokamera aus und zieht sich die Maske herunter. Die blonden Haare kleben verschwitzt an seinem Kopf. Seine Arbeit ist getan. Nicht einmal die Schreie und die um Gnade winselnden Worte, die sein Opfer ausstieß, haben ihn davon abbringen können, seinen Auftrag zu Ende zu führen. Und auf die Frage, wieso er ihm das antat, bekam der Todgeweihte von Vincent nur die Antwort, dass er dafür bezahlt werde.

Nachdem Vincent die Folter beendet hatte, hatte er den erlösenden Kopfschuss abgefeuert. So lautete der Auftrag. Der Mann sollte leiden bevor er starb, und diese Leiden sollten für den Auftraggeber auf Video festgehalten werden. Warum, das war Vincent egal. Er stellte nie die Frage nach dem Warum. Ihn interessierte lediglich: Welches Risiko besteht für mich? Es gab nicht viel, was er nicht tun würde, solange die Bezahlung stimmte.

***

Gertruds Gesicht strahlte vor Freude und ihre Augen leuchteten, als sie ihrem Gesprächspartner die Ergebnisse ihrer letzten Untersuchung mitteilte. Gertrud ist fünfundfünfzig und hatte ihre Krankheit fürs Erste besiegt. In ein paar Tagen wird sie das Sanatorium verlassen können. Doch zuvor möchte sie noch einmal mit dem blonden Mann die Vögel am See beobachten. Dieses hatten sie im letzten Jahr, ihrem schwersten Jahr überhaupt, sehr häufig getan. Bei Wind und Wetter waren sie losgezogen, sofern ihr Gesundheitszustand es erlaubte.

Gertrud genoss die warmen Herbstsonnenstrahlen, die sich zur Erde kämpften, auf ihrem Gesicht. Sie hakte sich bei ihrem Begleiter ein und beide marschierten los. Vincent hörte Gertrud aufmerksam zu, wie sie Zukunftspläne schmiedete und denkt nicht eine Sekunde daran, dass er morgen einen Menschen töten wird, einen Menschen, den er nicht einmal kennt. Der Name, der auf seinem Auftragszettel steht, ist der einer Frau.

Er ist kälter als der Tod und doch kämpfen sich vereinzelt warme Herbstsonnenstrahlen aus seinem Zwiespalt der Seele.

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